Oliver Klimpel

 

Stilvorlagen

 

oder

 

Go wild in the country

Where snakes in the grass

Are absolutely free!

 

oder

 

Zehn Episoden ?ber Taste-Making und klassenbildende Ma?nahmen

 

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Das Oberhaar bis zu 30cm lang, viele Stufen, ein gef?hnter Fransen-Look mit viel Volumen und kaum ausged?nnt, der auf der H?he der Wangenknochen beginnt und sich nach unten bis auf Schulterl?nge fortsetzt durch viele, sich nach hinten wegdrehende Locken. Blond. Das ist der Haarschnitt, den Tausende von Frauen bei ihren Friseuren 1976 nachfragten: der "Farah". Mit ihrer sonnigen M?hne und den gebrannten Wellen war Farah Fawcett aus "Charlie's Angels" im Fernsehen der Star mit der aufregendsten Frisur des Jahres. Niemand hat den "feathered look" je wieder besser aussehen lassen als die k?rzlich verstorbene Fawcett. California-Sexiness und ein Hyper-Optimismus der opulenten Reagan-Jahre - Fawcett verk?rperte auch durch ihre Ehe mit dem "Sechs-Million-Dollar-Mann" und "Colt f?r alle F?lle"-Schauspieler Lee Majors das All-American-Dreamgirl, welches sonnige Sportlichkeit und eine Vor-AIDS-Erotik in Pin-Up-Qualit?ten verwandelte und letztlich mit dem "Farah" zum Vorbereiter der Haarmodeentsprechung des sich anbahnenden schulterpolster-betonten Kleidungsstils Power Dressing wurde. In den Achtzigern n?mlich wechselten viele Frauen zu einem recht ?hnlichen Haarstil, der aber etwas k?rzer war. Die Inspiration stammte diesmal von Diana Spencer, die inzwischen Princess of Wales hie? und den englischen Thronfolger Charles geheiratet hatte. Kurze Frisuren waren eine nat?rliche Wahl geworden f?r vielbesch?ftigte, selbstbewusste, unabh?ngige Frauen in verantwortlicher Position mit Macht und Einfluss. Die M?hne war Vergangenheit, der Schnitt war k?rzer und leichter. Blonde Str?hnchen akzentuierten au?erdem. Kurz nach der Taufe von Prinz William 1982 war Lady Diana zu einem Look der schneidigen Kost?me und imposanten Schulterpolster ?bergegangen. Breitkrempige H?te waren seit Jahren unbeachtet geblieben, doch kombiniert mit ihrem neuen Stil, der neben dem Executive-Look der Business-Etagen und gro?en Namen der Modebranche auch entfernt Anleihen bei den New-Romantics nahm, verhalf sie H?ten zu einer Renaissance in der Mainstream-Fashion f?r gesellschaftliche Ereignisse.

 

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Als ich den Track "Go wild in the country" von "Bow-Wow-Wow" das letzte Mal h?rte, das muss jetzt ungef?hr zwei Jahre her sein, fielen mir komischerweise zun?chst statische Bilder ein. Post-Punk-Irokesen-Look, eine Melange von Urban Warrior in bedruckten T-Shirts und einer archaischen Jungle-Optik, die Pop in einen farbenfrohen Urwald transferierte. "Bow-Wow-Wow" war eine Band, die Malcolm McLaren ins Leben gerufen hatte, nicht zuletzt um Vivienne Westwoods Klamotten in Szene zu setzen. Eine Musik also, die von stilistischen Requisiten dominiert, bzw. ein Designprojekt, welches von Sounds und Rhythmen begleitet wurde. Das erste Mal hatte ich diesen Track in einem kleinen und dunklen Caf? in Camberwell im Londoner S?den geh?rt. Mein Freund Sam und ich hatten an diesem sp?ten Nachmittag schon zwei Pints Carling getrunken, dem damals mit Abstand billigsten Lager in der englischen Hauptstadt, als er mich auf den Song aufmerksam machte, der aus zwei riesigen Boxen im hinteren Teil des verrauchten und vage karibisch dekorierten Ladens hallte. Das war 1991. Damals war der Track bereits neun Jahre alt. Obwohl New Wave bzw. Punk gemeinhin als improvisierte, zuf?llige und chaotische Bewegungen ohne Anf?hrer beschrieben werden, gab es doch durch die N?he zur Welt der Publicity und des Konsumverhaltens in der sich ein wichtiger Teil der ?sthetischen Revolte ironischerweise manifestierte, Personen, die entscheidend dirigierten. Malcolm McLaren geh?rte zu genau diesen Akteuren. Er war der vermutlich der wichtigste Taste-Maker, seit Andy Warhol in den 60er Jahren Boheme mit einem schwulen Bauarbeiter-Appeal kombiniert hatte und mit Hilfe einer Riege aus Transvestiten und Exzentrikern mit Drogenneigungen in die ?ffentlichkeit katapultiert hatte. Die sich st?ndig ?ndernden Namen der Boutique, in denen McLaren auf der King's Road allm?hlich eine Art "Salon" f?r New Wave geschaffen hatte, zeigte die Sensibilit?t, mit der er Ideen testete und M?rkte erschloss. Der Laden hie? zun?chst "Too Young To Live, Too Old To Die", dann "Let It Rock" und sp?ter "Sex". Gleich den saisonalen Rhythmen der Fashion-Welt l?sten sich die Looks in schnellen Abst?nden ab. Fetisch-Schnitte und Leder in den Outfits der von ihm promoteten Bands wurden durch eine unbek?mmerte und grafische Theatralik in Make-Up und Mustern ersetzt. Und es war auch McLaren, der sowohl "Adam & The Ants" als auch "Bow-Wow-Wow" durch afrikanisches Inspirationsmaterial auf die F?hrte eines perkussionslastigen Sounds und einer lustvoll-oberfl?chlichen Ethnizit?t brachte. Von "Bow-Wow-Wow" war es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Boy George und "Culture Club", deren sexuelle und ?sthetische Hybridit?t die vielfarbige Collage von Pop und Camp zu einem vorl?ufigen H?hepunkt bringen sollte.

 

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Taste-Making ist auf existente stilistische Vorurteile angewiesen. In den USA geht es dabei meist um sexuelle Ausrichtung, um Geld oder Religion. In England, einem Land, das sich in den letzten 50 Jahren weniger als Macht der Warenfertigung, denn als Produzent erstaunlich potenter (sub)kulturell-?sthetischer Bewegungen und den daraus folgenden Produkten der Entertainment-Industrie hervorgetan hat, sieht das anders aus. Wie nirgendwo in Europa besteht hier das Klassensystem weiterhin. Navigation, Zugang und Identifikation zwischen ganz unterschiedlichen Aspekten des modernen Lebens definieren sich dar?ber. Wichtigste Anhaltspunkte: Sprache und Kleidung. Entweder sind diese Indizien Bestandteil t?glicher Einordnungsrituale, oder sie werden zu subversiven Spielb?llen kulturellen Ausdrucks. Flirts mit industriellen Arbeitskleidungen, Aneignungen von sprachlichen Formulierungen oder Dress-Codes der Upper-Class, Middle oder Working Class sind Teil der medial ausgetragenen Wettk?mpfe. F?r ein M?dchen mit dem Vornamen Tracy ist es bis heute ein Ding der Unm?glichkeit, in die Vorstandsetage eines wichtigen britischen Unternehmens aufzusteigen, es sei denn als ambitionierte Chef-Sekret?rin mit Vorstopper-Aufgaben. In Deutschland liegen die Dinge anders. In unserer langsam aufbrechende Konsensgesellschaft wird noch immer der Traum eines nivellierten Einheitsmittelstandes verfolgt. Allerdings werden hier Vorurteile massiv nach dem klassischen Modell von hoch- und minderwertiger Kultur, akademischen Bildungsma?st?ben und traditionell verstandenen Formen von Wissen und Intellektualit?t formuliert und Gruppen danach unterteilt. Ein Blick auf Deutschlands Printmedien und seine Fernsehlandschaft zeigt, wie hier, ?ber politische Grenzen und Eigentumsmodelle hinweg, eine krude Einteilung in high und low-brow betrieben wird. Auf der einen Seite die Intellektualit?t der Feuilletons gro?er Tageszeitungen und von Bildungssendern wie Arte, auf der anderen die popul?ren Formate der Programme des ?ffentlich-rechtlichen Fernsehens und privater Sender. Unternehmerisch und gestalterisch nehmen sich beide Bereiche kaum: beide sind durch mut- und innovationslose Entscheidungen gepr?gt. Als Plattform zum Testen und Etablieren neuer und spezifischer geschmacklicher Tribes taugen diese Formate kaum.

 

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Ihre Eltern hatten drei N?chte gebucht. Als der Volvo Kombi kurz nach Mitternacht bei starkem Regen auf dem Anwesen im schottischen Dunmore eintraf, konnte man in der Dunkelheit nicht einmal die Konturen des ungew?hnlichen Sommerhauses ausmachen. G?nzlich unvorbereitet traten die zwei Schwestern daher am fr?hen Morgen ?ber das Hauptportal aus dem Hausinneren heraus.und nachdem sie einen Blick auf den kurzgeschorenen Rasen des Parks geworfen hatten und sich umdrehten, sahen sich dem Haus gegen?ber, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatten. Auf dem zweist?ckigen Unterbau thronte eine riesige, 14 Meter hohe Ananas. Sie bestand wie der Gro?teil des ?brigen Hauses aus Sandstein und war im unteren Teil mit umlaufenden Sash-Fenstern versehen. Das Mauerwerk der Ananas wies genau jene miteinander verschmolzenen Fruchtknoten mit ihren spitzen Enden und den Bl?tterschopf am oberen Ende auf, die diese Frucht so unverwechselbar machen. Erbaut hatte dieses exzentrische Geb?ude ein heute unbekannter Architekt f?r John Murray, den vierten Earl of Dunmore, der es um 1761 seiner Frau zum versp?teten Hochzeitsgeschenk machte. Eine Frucht, so ungew?hnlich und aufregend in ihrer Form, so s?? im Geschmack, eine Frucht, die von Abenteuern in fernen Welten erz?hlte - der Inbegriff dekorativer Exaltiertheit. Luxus durch Unterhaltung - und Unterhaltung durch Luxus. Welch grandiose Idee, die Ananas selbst zum Haus werden zu lassen! Keine andere Pflanze hatte anscheinend die Lust st?rker geweckt, die darin bestehen konnte, in einem Haus zu wohnen, das die ?bertriebenen Formen genau dieser fremden und wohlschmeckenden Kultur angenommen hatte. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man begonnen, die S?dfrucht in Europa in Gew?chsh?usern zu ziehen. Bis dahin blieb sie eine Fantasie bizarrer Sch?nheit, die, ?ber beschwerliche Wege nach England gebracht, nicht nur beim Earl of Dunmore und seinen G?sten Verwunderung hervorrief. Die beiden Schwestern rannten in das Schlafzimmer ihrer Eltern, um sie zu wecken.

 

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Entsagung und Vergn?gen bilden ein seltsam instabiles Wechselverh?ltnis - wobei jede Idee von Luxus im Leben einer Person einen Verlust bei einer anderen zu implizieren scheint. Selbst die Popularit?t und der Erfolg von Sportarten mag von dieser Beziehung abh?ngig sein - wovon zum Beispiel die enorme Popularit?t von Golf in der Upper Class zur Zeit der Jahrhundertwende zeugt. Vom amerikanischen ?konom und Soziologen Thorstein Veblen und seiner "The Theory of The Leisure Class" von 1899 hatte ich in einer Rezension von Jorge Luis Borges gelesen. Borges schreibt, dass er sich anf?nglich nicht sicher war, ob es sich bei dieser Schrift um eine raffinierte Persiflage oder eine ernstgemeinte Studie handelte. Veblen erkl?rt sich darin unter anderen den Siegeszug von Golf in der amerikanischen Oberschicht durch das krasse Missverh?ltnis zwischen der Anzahl beteiligter Spielern und dem exzessiven Raumbedarf. Genau weil Golf von allen Sportarten diejenige sei, die den meisten Platz f?r die geringste Anzahl an Mitspielern ben?tige, so Veblen, sei sie so unglaublich erfolgreich. "Conspicuous consumption (vordergr?ndiger, offensichtlicher Konsum)", sozusagen.

 

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"Seit ungef?hr f?nf Wochen werde ich, Mr. Crumpet, von den furchtbarsten Formen heimgesucht. Wenn ich in den Bus steige und stumm dasitze, sehe ich mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit in einer Ecke oder mir direkt gegen?ber ein schreckliches Ding - entweder bei jemandem um den Hals gelegt oder auf seinem Scho?, von der Person aber g?nzlich unbemerkt. Wenn ich nach Hause komme, starren mich ein Dutzend gr?ssliche Dinge im Korridor an. Folgendes ist los: Ich habe mir die "korrekten Prinzipien" des Geschmacks angeeignet. Vor f?nf Wochen war ich in der Abteilung angewandter Kunst im Marlborough House, um mir das Museum f?r orientalische Kunst anzusehen. Ich hatte von der eingerichteten Gruselkammer geh?rt, fand sie dann auch und lief mit meinem Katalog in der Hand hindurch. Es war eine d?stere Kammer, ausgestattet mit schrecklichen Gardinen, Teppichen, Kleidungsst?cken, Lampen usw. In jedem einzelnen Fall erkl?rte mir der Katalogtext, warum dieses oder jenes Ding nicht ertr?glich sei. Au?erdem fand ich dort auch, schwarz auf wei?, ein paar Hinweise, was die richtigen Prinzipien des Dekorierens in der jeweiligen Kategorie des Kunsthandwerks seien. Ich h?tte heulen k?nnen! Ich sch?mte mich f?r das Muster meiner eigenen Hose, da genau dieses als Beispiel in der Ausstellung hing. Ich traute mich nicht, mein Taschentuch herauszuziehen, solange jemand in der N?he war, weil man mich gesehen h?tte, wie ich den Schwei? auf meiner Stirn mit etwas versucht h?tte abzutupfen, das wie eine Koralle aussah. Ich sah es alles vor mir. Als ich nach Hause kam, wurde mir klar, dass ich bis zu dieser Stunde inmitten all dieser Schrecken gelebt hatte. Einer meiner besten Freunde und Kunden ist Mr. Martin Frippy, ein wohlhabender, verheirateter junger Mann, den ich vor f?nf Wochen noch als einen extrem eleganten und geschmackvollen Gentleman angesehen h?tte. Vor zwei Tagen betrat er etwas unerwartet mein Haus, so dass ich wegen seines widerlichen ?u?eren ?berrascht war und ausrief: "Um Gottes Willen!" Er trug eine gro?karierte Hose und an beiden Hosenbeinen waren sechs schwarze B?nder. Er hatte drei farbige G?rtel um seinen K?rper gebunden. Seine Weste hatte Kn?pfe in Pferdeform und durch das Gesicht einer Operns?ngerin, die sich auf seinem Hemdkragen befand, bohrte sich eine Nadel, auf deren Kopf ein reitender Jockey angebracht war. "Mr. Frippy", sagte ich, "diese Hose ist scheu?lich." "Mein lieber Freund" erwiderte er, "was ist denn verkehrt an ihr?" "Und das Hemd ist auch ein furchtbarer Unfug. Mr. Frippy, Ornament ist essentiell geometrisch. Direkte Nachahmung der Natur mag hier und da angemessen sein, aber als Regel steht sie im Widerspruch zum vorbildlichen Geschmack. Ornament braucht Symmetrie, eine sorgf?ltige Beziehung der Einzelteile zueinander und eine Balance der Farbe. Jedes Objekt in der Natur, Mr. Frippy, ist ein Ornament. Nehmen Sie zum Beispiel einen Fasan. Er ist gekleidet in ein Tuch aus ganz unterschiedlichen Farben, aber eines, das einem harmonischen Design folgt und keine Kopien anderer Gegenst?nde benutzt! Oder haben Sie denn schon einmal einen Fasan in einem Muster aus Rennpferden und Ballett-T?nzern gesehen?"

 

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Als Prinz Albert die erste Weltausstellung in London 1851 organisiert, zusammen mit Henry Cole, Francis Henry, George Wallis und anderen, geht es nicht nur um ein Display britischer Kolonialmacht und das Zelebrieren industrieller Errungenschaften; es ist auch an der Zeit, eine neue Form des Konsumenten zu erschaffen. Die Mittelklasse ist allm?hlich dabei, zur kaufkr?ftigsten Schicht zu werden und diese Schicht braucht F?hrung - Anleitungen zur Art und Weise, wie sie sich ?ber Gebrauchsgegenst?nde zu identifizieren und ?ber erworbene Produkte und Wohnungseinrichtungen ausdr?cken kann. Kultiviert werden soll das ganz im Sinne von Flauberts Madame Bovary und ihrer Identit?tsfindung durch Konsum. Um diesen Bildungsanspruch an eine ganze Klasse voranzutreiben, er?ffnet ein Jahr nach der Weltausstellung in den R?umen des "Museums of Oriental Studies" (das sp?tere Victoria & Albert Museum) eine Ausstellung mit dem Namen "Chamber of Horrors". Zusammengestellt hat sie der Kunsthistoriker Henry Cole, der bereits in die Organisation der Schau in Paxtons Crystal Palace involviert war. Zum ersten Male werden der breiten ?ffentlichkeit nun Beispiele vorgestellt, die von den Ausstellungsmachern schlecht, unterentwickelt oder grundfalsch genannt werden. Au?erdem werden den Besuchern die Prinzipien des guten Geschmacks als Richtlinien mit auf den Weg gegeben. So wird etwa ?ber die durch ?berbordende Ornamentik eingeschr?nkte Funktion von Objekten lamentiert oder gegen inhaltlich unmotivierte und unlogische Illustrationen als Dekor gewettert sowie ?ber ?bertriebene Mischungen unterschiedlicher Materialien, Farben und Muster geklagt. Durch die industrielle Revolution und Massenfertigung von Haushaltsgegenst?nden ist in England der Trend des Home Decorating entstanden, der scheinbar nach Erziehung schreit und Qualit?tskriterien braucht, um einem geschmacklichen Wildwuchs entgegenzuwirken. Anstatt eine einfache Rezension ?ber Henry Coles Ausstellung zu schreiben, entschlie?t sich Henry Morley, der f?r das von Charles Dickens gegr?ndete Journal Household Words schreibt, stattdessen den fiktiven Mr. Crumpet aus dem Londoner Vorort Brixton dar?ber berichten zu lassen. Neben vorherrschender Skepsis scheint allerdings auch Bewunderung f?r Cole durch, wenn Morley sich in seinem Text ?ber die Konsequenzen der Entschiedenheit lustig macht, mit der der gemeine Volksgeschmack wieder auf gehobenere Bahnen gebracht werden soll. Dieses Training des Geschmacks tritt allem zum Trotz einen Siegeszug durch die westliche Welt an und nach gut 50 Jahren erreicht die Kampagne zur ?sthetischen Bildung der Massen auch Deutschland. 1909 ist es ein real existierender Herr Gustav Pazaurek, der in einer Ausstellung in Stuttgart gleich Cole "Geschmacksverirrungen im Kunstgewerbe" aufdecken will. Im Katalog sind die Verfehlungen und Bespiele schlechten Geschmacks fein s?uberlich in drei Kategorien unterteilt:

 

Affektierte Verwendung von Materialien

- Porzellanvasen in der Form eines Baumstumpfes

- Aschenbecher aus Briefmarken gefertigt

- Linoleum, das wie Holz oder Leder aussieht

- sinnlose Kombination unterschiedlicher Materialien

- Schokoladenfiguren des Kaisers

 

Konstruktionsfehler

- metallische Gef??e f?r hei?e Fl?ssigkeiten

- unstabile Vasen

- unbequeme St?hle

- Nadelkissen in Tierform

- Thermometer in Form einer Reitpeitsche ?bertriebener Schmuck

- breite Marginalspalten in B?chern

- unn?tig simple Bindungen

- religi?se und patriotische Motive

- Leberwurstverpackung mit Bismarck-Abbildungen verziert

 

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Was in der zweiten H?lfte des 19. Jahrhunderts einer Demonstration gesellschaftlichen Status gleichkommt, erlebt eine signifikante Fortsetzung in den 1980er Jahren. Design wird nun gleichzeitig als massentaugliches Differenzierungsmerkmal sowohl zu einer Befestigung von Klassenunterschieden benutzt als auch zu einer konsumeristischem Emanzipation (z.B. IKEA) ?ber Formen skandinavischer und kontinentaler Moderne instrumentalisiert. Eine der interessantesten Etappen auf diesem Weg ist die Ausstellung "Taste", die der junge Kunsthistoriker Stephen Bailey, vom Habitat-Gr?nder Terence Conran unterst?tzt, im Keller des Londoner Victoria & Albert Museums 1984 kuratiert. Hier treffen Beispiele von high-brow taste und low-brow-Kitsch aus Grafik, Produktdesign und Architektur als Repr?sentanten unterschiedlicher Wahrnehmungen von gut und schlecht aufeinander. Das Ausstellungsdesign, welches die Exponate entweder auf einer wei?en S?ule oder einem wei?en M?lleimer als Plattform pr?sentiert, verst?rkt die ohnehin schon provokante Rhetorik der Ausstellung. Hin und wieder werden die Objekte n?mlich auch kontrovers zugeordnet, wie das Beispiel des TV-am-Geb?udes des postmodernen Architekten Terry Farrell zeigt, der mit dem Kompromiss, das Modell sowohl auf einem S?ulenfu? als auch einer M?lltonne stehend zu zeigen ?berhaupt nicht einverstanden ist, wutentbrannt die Er?ffnung verl?sst und die Entfernung des Exponats aus der Ausstellung fordert.

 

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Die Serviette lose auf dem Scho? ausgebreitet, nicht in den Kragen gestopft. Messer und L?ffel auf der rechten Seite, die Gabel auf der linken. Unterschiedlich geformte Gl?ser f?r unterschiedliche Getr?nke. Etikette und (stilistische) Benimmregeln sind pr?zise - m?ssen sie doch Teilnehmer an Banketts und Essen in Wissende und Unwissende einteilen. In die, die selbstbewusst und scheinbar m?helos m?gliche formale Fehler umschiffend sich darauf konzentrieren k?nnen, Anekdoten zum Besten zu geben, nur hin und wieder durch einen eleganten Bissen oder einen Schluck aus dem richtigen Glas unterbrochen, und die, f?r die sich der Abend wie eine Ewigkeit aus Blo?stellung oder angestrebter aber nie erreichter Konformit?t anf?hlt. Und obwohl hier eine Beziehung von Formen und Normen des Verzehrens zum geschmacklichen Erlebnis nicht bestritten werden soll, so ist sie doch auch arbitr?r, theatralisch und oft einem abrupten Wandel unterworfen. In bester Manier folgt auch sie Moden, die das Ereignis im Auge haben und den Gaumen allenfalls zum Anlass nehmen. Vom Mittelalter an bis zum 19. Jahrhundert war das ?bliche Arrangement der "Service a la fran?aise" - alle Gerichte waren gleichzeitig auf der Tafel aufgebaut. Erst dann wurde dieses totale, ?berbordende und vielleicht auch un?bersichtliche Layout durch die wesentlich kontrollierte Form von Pr?sentation and Bedienung abgel?st, bei der die G?nge geheimnisvoll inszeniert nacheinander serviert wurden und bei der auch Hierarchien anders zutage traten: dem "Service a la russe". So fand zum Beispiel das Schneiden des Bratens bzw. das Vorpr?parieren des Fleisches oder des Fisches nicht an der Tafel, sondern entweder unsichtbar in der K?che oder an einem separaten Tisch statt. Und es war an Alexandre Balthazar Laurent Grimod de la Reyniere, die Regeln aufzustellen, die schlie?lich die Benutzung der Serviette, den diversen Teilen des gedeckten Bestecks und den anderen Esswerkzeugen regelte. Bizarrerweise war Grimod de la Reyniere das Ungl?ck deformierter H?nde zuteilgeworden, was seinen wohlhabenden, aber furchtbar autorit?ren Vater dazu veranlasste, ihn als Kind auf dem Familienanwesen versteckt zu halten. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sp?ter, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zur schillerndsten Pers?nlichkeit des kulinarischen Paris zu werden. Neben dem Ausrichten von thematischen Festessen mit Witz und Intelligenz und dem Verfassen der ersten Restaurant-F?hrer hatte er dem Konsumenten endlich standardisierte Qualit?tsma?st?be f?r die Einordnung dieser sozialen Ereignisses mit auf den Weg gegeben.

 

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Eines der gro?artigsten und am?santesten Handb?cher ?ber den Stil einer Kaste ist "The Official Sloane Ranger Handbook - The First Guide To What Really Matters In Life" von Peter York and Ann Barr aus dem Jahr 1982. Ebenso in der Londoner King's Road gelegen wie Malcolm McLarens Punk-Laden, aber anders als jener nicht im heruntergekommenen Teil der Stra?e mit seinen K?nstlern und Outcasts, sondern an ihrem schicken Ende befindet sich Sloane Square. Um diesen Platz herum gruppiert(e) sich die Szene der Henrys und Carolines in ihren Barbour-Jackets und Laura-Ashley-Sitzgruppen. Mit reichlich Ironie wird im Buch beschrieben, wie sich die Upper Class und eine Aspirational Upper Middle Class in den verschiedensten Formen zu erkennen gibt und welche Accessoires es bedarf, um als ein "Sloane" von seinesgleichen anerkannt zu werden. Lady Di: der "Sloane of all Sloanes". Das Buch f?hrt die verschiedensten Outfits f?r beide Geschlechter auf, das Verh?ltnis zu Sex, Sauberkeit, Haustieren und Arbeit als solcher, behandelt Finanzen und Gardening sowie die Frage nach der richtigen Universit?t, den richtigen sozialen Ritualen, den Schulen f?r die Kinder, Einrichtungsh?usern, Formulierungen und sprachlichen Ticks, den Beziehungen zur Aristokratie undsofort. Jedes noch so nichtig erscheinende Detail formt letztendlich ein wesentliches Puzzle-Piece in dem Erscheinungsbild, welches Zugeh?rigkeit regelt. Eine gemeinsame Sprache wird hier also zu einer ebenso l?cherlichen wie effektiven Basis f?r Kommunikation und Verhandlung pers?nlicher sozialer und wirtschaftlicher Interessen. "Wie kleidet man sich angemessen?" fragte auch Adolf Loos 1903, als ?sterreichischer Vordenker, Architekt und leidenschaftlicher Fan englischer Mode und Umgangsformen, und antwortet gleich selbst: "Modisch. Wann ist man modisch gekleidet? Wenn man die geringste Aufmerksamkeit bekommt." In der ersten und letzten Ausgabe seiner Zeitschrift "Das Andere" argumentierte er, dass eine modische Assimilation sowohl in seinen Reisen nach Timbuktu als auch Kratzenkirchen angebracht sei. Geschmack war hier haupts?chlich als Werkzeug zu sehen, welches einen in unterschiedlichen in Umgebungen erst richtig funktionieren lie?. Doch es gab in seinen Augen altmodische Formen in ?sterreich, die diesen diskret-subtilen und m?helosen Kleidungsweisen nicht entsprachen. Er echauffierte sich ?ber die steifen Uniformen der Beamten und spottete ?ber Morgenm?ntel, die vor dem Blick vor?bergehender Passanten unter einem weiteren Mantel verborgen werden m?ssten, selbst bei sengender Hitze. Doch Rat und Tat war zur Hand. Auch Loos bat sich als F?hrer durch den Geschmacksdschungel an: "Wenn Sie sich nicht sicher sind, wenden Sie sich an mich. Ich will alle Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantworten."

 

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Voltaire sagt, dass der Mensch mit Geschmack andere Ohren und Augen hat als der grobe Mensch. Nun, das macht ihn wohl auch anf?lliger.

 

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Further reading:

Philip Core: The Original Eye, Arbiters of Twentieth Century Taste, Quartet Books, 1984

Interessenten k?nnen heute ?bernachtungen im Pineapple House telefonisch unter 0044 1324 831 137 buchen

Henry Morley: A House Full Of Horrors, in: Household Words, volume VI, 4. Dezember 1852

Jorge Luis Borges: The Total Library, Penguin, 1999

Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class, 1899

Stephen Bayley: Taste, An Exhibition about Values in Design, The Conran Foundation, 1983

Stephen Bayley: Taste, The Secret Meaning of Things, Faber&Faber, 1991

Peter York, Ann Barr: The Official Sloane Ranger Handbook, Ebury Press London, 1982

Adolf Loos: Das Andere, No 1, 1903

 

? Oliver Klimpel